ES KLINGELTE

EINE KURZGESCHICHTE

Es klingelte und keine ihrer Schwestern machte auf. Keine wollte die Tür öffnen. Sie natürlich auch nicht. Aber eine musste immer daran glauben, in den meisten Fällen sie, denn schliesslich war sie die Jüngste. Die Kleinste. Die Schwächste.

Die Schwestern stupsten sie unsanft in den Rücken und sie gehorchte. Wie immer. Angst und Furcht plagten sie. Es war nicht fair, dass sie hier stehen musste, während die anderen sich in den Zimmern links und rechts von ihr versteckten. Jeden ihrer Schritte beobachteten. Kicherten.

Es knackte hinter der Tür und alle Stimmchen verstummten. Augen wurden aufgerissen. Nervöse Blicke ausgetauscht. Eigentlich sollten sie doch gar nicht aufmachen. Mama warnte sie jedes Mal, wenn sie das Haus verliess. Niemandem trauen. Niemanden ins Haus lassen.

Aber die Schwestern machten sich einen Spass daraus und sie war das Opfer. Alleine stand sie da. Die Hände zu Fäusten geballt. Die hölzerne Tür ragte wie ein dunkel lackierter Gigant vor ihr empor. Immens. Einschüchternd.

Es war still und keine der Schwestern wagte es, sich zu bewegen. Alle standen sie da und warteten. Worauf sie warteten, das wussten sie nicht. Aber gebannt starrten sie alle auf die Tür, dann zu ihr, dann wieder auf die Tür, dann wieder zu ihr. Es vergingen Sekunden, doch diese fühlten sich an wie Stunden.

 

Die Schwestern wurden unruhig und rückten vorsichtig aus ihren Verstecken hervor. Sie solle vorwärts machen. Na los. Die Jüngste wurde immer unruhiger, überall kribbelte es wie wild, als spaziere eine Schar Ameisen über ihre nackte Haut. Man erwartete etwas von ihr. Doch sie konnte nicht abliefern.

Es klingelte erneut und keines der Mädchen wagte mehr zu atmen. Sie erstarrten zu Statuen, aufrecht, steif und reglos. Bloss die Pupillen flackerten nervös umher. Wäre doch nur wenigstens eine von ihnen gross genug gewesen, um durch das kleine Guckloch oben in der Tür hinaus zu schauen. Oder mutig genug. So wäre das Problem kein Problem.

Doch die Schwestern rührten sich nicht und warteten auf sie. Die Kleinste sollte die Situation alleine regeln. Das war die bequemste Lösung, für die Mehrheit zumindest. Deren Körper zogen sich langsam und zaghaft in die Verstecke zurück, ihre Zungen aber gaben böse Zischlaute von sich. Tu nicht so. Mach jetzt endlich.

Es klang wie eine Symphonie gesungen von Schlangen und machte die Kleinste unglaublich unsicher. Es wird nicht besser, wenn du länger wartest. Wage ja keinen Rückzieher. Kannst du eigentlich irgendetwas? Sie schloss die Augen und spürte, wie ihr eine Träne über die Wange kullerte. Ihre Mundwinkel verzogen sich. Sie wimmerte.

Die Schwestern ignorierten ihr Verhalten und bedrängten sie weiter. Fiese Sticheleien entfuhren ihnen, doch keine hätte es selbst besser gemacht. Keine hätte es selbst besser gekonnt. So standen sie also da, die Schwächste, umgeben von noch Schwächeren. Von noch Feigeren. Voller Furcht.

Es ertönte ein dumpfes Brummen hinter der Tür und wieder schreckten alle zusammen. Eine menschliche Stimme. Worte. Jemand versuchte mit ihnen zu reden, aber durch das dicke Holz hindurch waren nur noch einzelne Laute zu erahnen. Hmmm mhmhm. Immer lauter. Immer aggressiver.

Auch die Schwestern wurden immer aufgeregter und begannen bereits zu kreischen. Zittrige, gebrochene Wortfetzen. Ihren hohen Stimmchen hörte man die Panik an. Die Jüngste stand noch immer mit geschlossenen Augen in der Mitte der Eingangshalle, ihr Kopf knallrot und alle Muskeln angespannt. Was um sie herum geschah, das nahm sie nicht mehr wahr.

Es klingelte und klingelte und klingelte. Die Abstände dazwischen wurden immer kleiner. Sturmläuten. Und die Schwestern schrien und fuchtelten unkontrolliert mit den Ärmchen in der Luft umher, mit ihren Beinchen aber waren sie wie fest im Boden verankert.

Auf einmal stoppte das Klingeln. Auch die Stimmen. Stille.

Die Schwestern schauten einander verängstigt an und auch die Kleinste öffnete wieder ihre Augen. Sie blickte sich fragend um. Wollten die anderen noch immer, dass sie die Tür aufmachte? Angsterfüllte, aber erwartungsvolle Gesichter blickten ihr aus beiden Richtungen entgegen. Sie schluckte schwerfällig. Ein tiefer Atemzug.

Es polterte vor der Tür und der Boden vibrierte, als wäre jemand oder etwas umgefallen. Dann ein metallisches Klicken am Schlüsselloch. Ein Schlüssel wurde umgedreht. Ruckartig wurde die Klinke nach unten gedrückt und die grosse Holztür energisch aufgestossen. Es bot sich ein Bild, das keines der Mädchen erwartet hatte. Erleichterung. Und trotzdem Schock.

Denn die Schwestern hatten gebangt und mit vielen schrecklichen Ungeheuern gerechnet, aber nicht mit diesem. Gross. Wütend. Zornig. Kampfbereit. Vor ihnen stand es, in einem Schlachtfeld aus unzähligen, zu Boden gefallenen Einkaufstüten, zwischen Gemüse, rohem Fleisch und aufgeplatzten Tetra-Packungen. Dunkle Haarsträhnen im Gesicht. Verärgert funkelnden Augen dahinter.

Macht denn keiner von euch die Tür auf? Wie oft muss man klingeln, nach euch rufen und schreien? Steht nicht so rum und glotzt mich an, helft mir gefälligst!

Es war ihre Mutter.

Für: MMP, FHGR
Funktion: Text
Datum: Januar 2020

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